Welche Erfahrung ruft mich?

Soll ich oder soll ich nicht? Oder um es in den berühmten Worten von Karl Valentin zu sagen: Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut! Jeder kennt solche Situationen des hin und her gerissen seins, aber wie kann man in einer Partnerschaft gut mit solchen Situationen umgehen?

 

Unser Handeln, ja selbst das wahrhaftige Aussprechen unserer Gedanken und Gefühle, kann unserem Partner Leid zufügen. Sollten wir also alles vermeiden, was dem den Partner schmerzen könnte? Oder sollen wir im Sinne der eigenen Authentizität auf mögliches Leid des Partners keine Rücksicht nehmen? Die Antwort liegt wie so oft in der Mitte zwischen den Extremen. Aber wie finden wir im konkreten Fall diese Mitte?

 

Fallbeispiel offene Beziehung

Ich möchte dazu das Beispiel eines Paares heranziehen, welches in einer offenen Beziehung lebt. Offen heißt hier, dass sich die beiden grundsätzlich das Recht zugestehen, auch mit anderen Menschen Erotik und Sexualität zu leben, es heißt aber nicht, dass dies dem jeweils anderen Partner „egal“ ist, dass es ihn/sie kalt und unberührt lässt. Es ist sogar so, dass trotz dieser Abmachung, die beide bewusst und einvernehmlich getroffen haben, auch Eifersucht und Leid entstehen.

 

Wie soll sich nun ein Partner in diesem Beispiel verhalten, wenn er/sie weiß, dass er/sie zwar Erfahrungen mit anderen Menschen machen darf, dies aber dem Partner Leid und Schmerz zufügen könnte?

 

Bilanz für das Gesamtsystem

Die entscheidende Frage ist: Wie wichtig ist die Erfahrung, um die es geht? Ruft mich diese Erfahrung wirklich? Ist sie essenziell für mich und eventuell sogar für uns als Paar? Sehnt sich mein Innerstes, meine Seele nach genau dieser Erfahrung?

Oder ist es eine Erfahrung die ich so ähnlich schon öfters gemacht habe und die mich nicht wirklich weiterbringt. Eine die mir vielleicht gerade über meine Langeweile oder innere Leere hinweg hilft. Eine die von unbewusster Gewohnheit und einem alten Muster, vielleicht sogar von einem suchtartigen Verhalten getragen wird. Eine Erfahrung, die zwar meinem Ego einen Moment lang schmeichelt, sonst aber nichts bewirkt.

 

Systemisch betrachtet lautet die Frage also: Ist eine bestimmte Handlung für das Gesamtsystem lohnenswert? Dies ist der Fall wenn der Gewinn aus einer bestimmten Erfahrung für einen (oder beide) höher einzuschätzen ist, als der Schmerz, welches diese Handlung bei einem (oder beiden) auslöst.

 

Ängste und Sehnsüchte kennen und akzeptieren

Die Kunst besteht nun darin, diese Abwägung so realistisch, objektiv und zuverlässig wie möglich zu treffen. Dies kann nur gelingen, wenn sich das Paar so offen wie möglich über Sehnsüchte und Ängste, über Erfahrungen und Schmerz austauscht. Wenn beide Partner also übereinander Bescheid wissen – und dies nicht nur an der „harmlosen“ Oberfläche.

 

Dieses „tiefere Bescheid Wissen“ tritt ein, wenn die Partner neugierig zuhören, von sich selbst berichten statt dem Partner im Vorwurf zu begegnen und die Gefühle des anderen – sei es Freude oder Schmerz – anerkennen, ohne sich wechselseitig für die Gefühle des anderen verantwortlich zu machen oder zu fühlen.

 

Möge Ihnen das neue Jahr viel Gelegenheiten und Mut schenken, sich in diesen Lebenskünsten zu üben.

 


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